02.06.2021

Auf den Spuren von 500 Jahren Pferdezucht

„Er ist mein absolut bestes Pferd“, sagt Olympiasieger Michael Jung über La Biosthetique Sam, sein Herzenspferd, mit dem er 2011 auch in Aachen gewinnen konnte. Sam und Jungs zweites Toppferd fischerRocana haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind im Haupt- und Landgestüt Marbach in Baden-Württemberg groß geworden. Grund genug, einmal hinter die Kulissen des ältesten und größten staatlichen Gestüts in Deutschland zu blicken.

10 Grad und bewölkt – so die Wettervorhersage. Geht besser, aber wenigstens kein Regen angekündigt. Also Sneaker statt Winterschuhe eingepackt, schließlich ist ja auch schon Frühling. Ziel ist die kleine Gemeinde Gomadingen im südlichen Baden-Württemberg. Schon kurz nach Verlassen der Autobahn stellt man fest, dass Frühling hier etwas anders aussieht als in Aachen. Außentemperatur ein Grad und Schnee – aber wenigstens sehen die weißen Berge schön aus. Der Weg schlängelt sich über enge Landstraßen und durchquert friedlich schlafende Dörfer. Kaum zu glauben, aber über eine halbe Millionen Menschen besuchen diese Idylle jedes Jahr. Mit Veranstaltungen wie den Marbacher Classics, der Hengstparade und Gestütauktionen sowie der internationalen Vielseitigkeit ist das Haupt- und Landgestüt Marbach eins der größten Touristenmagnete der Region.

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Aber die Marbacher sind nicht nur für ihre Events bekannt, sondern vor allem für die Pferdezucht, die schon Jahrhunderte alt ist: 2014 feierte das Gestüt sein 500-jähriges Bestehen. „Haupt- und Landgestüte sind alte Einrichtungen, die früher dazu dienten, dem Land gute Pferde zur Verfügung zu stellen. Sie wurden vorrangig im Militär und in der Landwirtschaft eingesetzt“, erklärt Landoberstallmeisterin Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. Das ist heute nicht mehr so, aber gute Pferde werden trotzdem gebraucht. „Auch heute sind wir für die Landespferdezucht da. Ein Hauptgestüt hat Stuten, ein Landgestüt Hengste – wir haben beides.“ Es wird vorrangig für den Sport gezüchtet, gute Pferde sind auch hier elementar.

Aus Liebe zum Pferd

Die lange Historie von Marbach erkennt man auf den ersten Blick: 180 Gebäude auf den acht Höfen des Gestüts wurden bereits im 16. Jahrhundert erbaut und stehen heute unter Denkmalschutz. Betritt man die alte Schmiedewerkstatt oder die Hengststation auf dem ehemaligen Klostergelände, fühlt es sich an, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wie eine Reise in die Vergangenheit.

 

Die Gebäude sind das eine, was im Gedächtnis bleibt. Die Menschen das andere. Über 80 Mitarbeiter kümmern sich tagtäglich um das Wohlergehen der fast 600 Pferde. Manche sind bereits seit Jahrzehnten hier. Warum? Aus Liebe zum Pferd. „Mein Herz schlägt schon immer für die Pferde. Es macht einfach Spaß, ihnen beim Aufwachsen zuzusehen und jeden Tag mit ihnen umzugehen“, erzählt Thomas Schick, Pferdewirtschaftsmeister und Funktionsstellenleiter Vorwerk Fohlenhof und Güterstein. Er geht seinem Beruf mit großer Leidenschaft nach – und trägt gleichzeitig viel Verantwortung. „Es ist unsere Aufgabe, die über 500 Jahre ungebrochene Tradition und die besonderen historischen Pferderassen wie den Altwürttemberger zu erhalten“, betont Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. „Damit das gelingt, bilden wir auch aus.“ Die Landesreit- und Landesfahrschule hat ihren Sitz auf dem Haupt- und Landgestüt, jedes Jahr beginnen knapp 50 Lehrlinge ihre Ausbildung zum Pferdewirt. Damit ist Marbach der größte Ausbildungsbetrieb Deutschlands in diesem Beruf. Zu vermitteln, was artgerechte Pferdehaltung bedeutet, liegt den Marbachern dabei ganz besonders am Herzen.

Vom Fohlen zum Sportler

Und das bedeutet unter anderem jede Menge Auslauf für die Vierbeiner: Jeden Morgen schiebt Stutenmeister Klaus Niedhammer das Tor zur Seite. Sofort werden die Araberstuten und ihr Nachwuchs aufmerksam, hören auf zu fressen und spitzen die Ohren. Noch etwas zaghaft blickt ein Fohlen aus dem Laufstall hinaus. Ein weiteres ist mutiger, trabt selbstbewusst auf die Wiese und macht einen Freudenbuckler. Nach und nach folgen die anderen Stuten mit Fohlen bei Fuß. Einige Minuten später grast die gesamte Herde friedlich auf der Wiese.

 

Bilder wie diese sind im Haupt- und Landgestüt Alltag. Egal ob Zuchtstute, Nachwuchspferd oder Rentner – das Gestüt hat mit 963 Hektar Gesamtfläche ordentlich Platz, allen ausreichend Bewegung zu ermöglichen. Man merkt es den Pferden an, sie sind zufrieden, ausgeglichen und aufgeschlossen. „Unsere Pferde sind sehr menschenbezogen“, erklärt Thomas Schick. „In den ersten Jahren betreiben wir einen hohen Aufwand, davon können wir später profitieren.“ Das Ziel: Aus den süßen quirligen Fohlen sollen einmal erfolgreiche Sportler werden. Das Rezept der Marbacher scheint aufzugehen, die Liste ihrer Erfolgspferde ist lang. Einige zählen sogar zu den Besten und haben es bis zum CHIO Aachen geschafft – eben auch La Biosthetique Sam und fischerRocana.

 

Michael Jung und La Biosthetique Sam beim CHIO Aachen 2011.

Michael Jung und La Biosthetique Sam beim CHIO Aachen 2011.

Wir sehen uns beim CHIO Aachen!

Nach zwei kalten Tagen auf der schwäbischen Alb geht es zurück nach Aachen. Der Trubel in der Großstadt fällt plötzlich richtig auf, die ländliche Umgebung hat entschleunigt. In Marbach ticken die Uhren scheinbar etwas langsamer. Aber vielleicht ist das gut so, die Erfolge der Marbacher sprechen ja für sich. Schauen wir also im September beim CHIO Aachen mal etwas genauer auf die Starterlisten, vielleicht entdecken wir wieder einen vierbeinigen Sportler mit Marbacher Wurzeln. Verwundern würde es nicht.