05.09.2023

Siegertypen

Der Reiter, ein Stilist. Ein Perfektionist. Einer, der seit Jahrzehnten sein Können beweist. Das Pferd, ein Ausnahmetalent. Intelligent und selbstbewusst. Marcus Ehning und Stargold sind das Siegerpaar im Rolex Grand Prix 2023.

Sonntagnachmittag. Aachen. Hauptstadion. Die Uhr tickt erbarmungslos, während das letzte Paar sich seinen Weg durch den Stechparcours des Rolex Grand Prix bahnt. 11 Sekunden. 12 Sekunden. Tick. Tack. Rasant, aber stets kontrolliert, meistern Pferd und Reiter die ersten Sprünge. Zwei Oxer, ein Steilsprung. Mühelos. 18 Sekunden. 19 Sekunden. Tick. Tack. Die nächsten beiden Oxer. Auch die sind kein Problem. 29 Sekunden. 30 Sekunden. Tick. Tack. Dann die zweifache Kombination. Fehlerfrei. Die Zuschauer spüren, dass sie gerade Augenzeuge von etwas Großartigem werden. Keinen im ausverkauften Rund hält es mehr auf seinem Sitz. Lautes Raunen unterbricht die konzentrierte Stille, die zuvor nur vom donnernden Hufschlag des Pferdes garniert gewesen ist. Anfeuernde Pfiffe begleiten Marcus Ehning und seinen Stargold auf der letzten Linie und über das finale Hindernis. Ein letztes Mal tickt die Uhr. Dann bleibt sie stehen. 45,12 Sekunden prangen in riesigen Lettern auf der Anzeigetafel. 40.000 Menschen toben und spenden rhythmischen Applaus. Der Reiter verharrt kurz. Gewissheit suchend blickt er nach oben. Dann, endlich, leuchtet die „1“ hinter seinem Namen auf – und die Freude kennt keine Grenzen mehr. Auf den Rängen hüpft und feiert die Familie. Ehefrau Nadia und die vier gemeinsamen Kinder liegen sich in den Armen. Bundestrainer Otto Becker wendet sich kurz ab, um sich – wie er später gesteht – die eine oder andere Freudenträne aus dem Gesicht zu wischen.

 

Und Marcus Ehning? Der genießt den Moment. Seinen Moment. Es ist eine Welle unbändiger Freude, großer Emotionen und Dankbarkeit, die ihn zu überkommen scheint, während er jeden einzelnen Zentimeter auf seinem Weg hinaus aus dem Hauptstadion vehement auskostet. Immer wieder reißt er die Arme in die Höhe, reckt seine Kappe gen Himmel, um sich dann wieder fast ungläubig die Hände vor das Gesicht zu halten. Sonst eher ein ruhiger Vertreter seiner Zunft, ein Macher, besonnen und fokussiert, erlebt die Welt den 49-Jährigen an diesem Nachmittag emotional wie nie. 2006 und 2018 hat er den Rolex Grand Prix in Aachen bereits gewonnen. Ob er sich diesmal mehr freut als zuvor? „Nein“, sagt er wenig später in die Mikrofone der Journalisten, während das für ihn so typische, nahezu spitzbübische Lächeln über sein Gesicht huscht. In Aachen zu gewinnen, sei immer etwas Besonderes. „Aber ich war hier im Stechen noch nie als Letzter dran. Den sicheren Sieg in diesem Stadion gemeinsam mit dem Publikum zu feiern, das ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl“, sagt der Reiter, der seinen Namen damit nun schon zum dritten Mal auf der legendären Siegertafel verewigt hat – und das mit drei unterschiedlichen Pferden.

Der Eintrag auf dieser Tafel – für viele Reiter ist das ein Lebenstraum. Für Marcus Ehning ist es der Lohn für unendliche Ausdauer, jede Menge Training und nicht zuletzt den Glauben an sein Pferd. „Stargold ist ein Siegertyp“, sagt er über den Oldenburger Hengst, den er seit 2019 unter dem Sattel hat. „Er liebt die großen Plätze und kann einem das Leben als Reiter wirklich sehr einfach machen.“ Bis auf die imposanten Bocksprünge vielleicht, die der energiegeladene 12-Jährige zwischen den Hindernissen hin und wieder ein-baut. „Er ist in gewisser Weise, und das meine ich positiv, ein kleiner Angeber“, schmunzelt Marcus Ehning, während er seinem in die Siegerdecke eingehüllten Sportpartner immer wieder anerkennend auf den Hals klopft. „Selbst wenn er mal bockt, er bleibt immer vollkommen fokussiert.“ Wie alle seine Pferde reagiert auch Stargold auf feinste Hilfen, ist jederzeit aufmerksam bei seinem Reiter. Einem Reiter, dem es dank seiner außergewöhnlichen Qualität als Ausbilder immer wieder gelingt, neue Pferde im internationalen Spitzensport zu etablieren.

Auf dem Weg dorthin haben für Marcus Ehning zunächst Konstanz und Sicherheit absolute Priorität gegenüber einem schnellen Sieg. Vertrauen aufbauen lautet die Devise, die er bei der Arbeit mit seinen Pferden verfolgt. „Ich glaube, das zeichnet mich aus“, reflektiert der 49-Jährige. Er wirkt zu-frieden, wenn er über seine Karriere spricht, in deren Verlauf ihm seine Philosophie seit langem einen konstanten Platz in der Weltspitze beschert. Ist die vertrauensvolle Bindung zu einem Pferd nämlich erst einmal geglückt, ist er in der Lage, das Potential seiner Sportpartner voll auszureiten. Dann macht Marcus Ehning das, was er am besten kann: durch Leistung zu überzeugen. Mit makellosem Stil. Routiniert, sicher, einfach cool und abgebrüht im Wettlauf gegen die Zeit. So wie im Rolex Grand Prix in Aachen mit seinem Stargold.

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