12.09.2023

Die Traumfängerin

Fabelwesen, Rockstar, Queen – Worte wie diese fallen Jessica von Bredow-Werndl ein, wenn sie über ihr Erfolgspferd spricht. Aber was auch immer die Trakehner Stute Dalera am passendsten beschreibt, in jedem Fall ist sie das Pferd, das die Träume ihrer Reiterin wahr werden lässt.

2. Juli 2023. 6.300 Augenpaare verfolgen gebannt, wie sich die braune Stute aus einer tänzerischen Piaffe heraus ein letztes Mal in die Passage erhebt. Einem Metronom gleich trägt sie ihre Reiterin zu den Klängen von Édith Piafs „Je ne regrette rien“ dem Ende einer mit Höchstschwierigkeiten gespickten Kür entgegen. Dann der Schlussgruß. Während die letzten Akkorde des französischen Chansons verstummen, steht Dalera ganz ruhig da, alle vier Hufe fest im Sand des Deutsche Bank Stadions verankert. In ihrem Sattel sitzt eine von ihren Emotionen überwältigte Jessica von Bredow-Werndl, die keinen Moment zögert, ihrer Sportpartnerin das Lob zu spenden, das sie verdient. Immer wieder klopft sie der 16-jährigen Stute auf den Hals. Anerkennend. Von Dankbarkeit erfüllt. Dann winkt sie strahlend ins Publikum, das sich längst von seinen Plätzen erhoben hat und die beiden mit rhythmischem Klatschen und frenetischem Jubel aus dem Viereck begleitet. Der Freudentaumel erreicht seinen Höhepunkt, als die Bewertung durch die Stadionlautsprecher hallt. 32-mal zückt die Jury an diesem Tag die Höchstnote zehn. 90,820 Prozent bedeuten den zehnten Ritt des Paares, der mit einer Wertung jenseits der magischen 90-Prozent-Marke honoriert wird – und den ersten Sieg von Jessica von Bredow-Werndl im Deutsche Bank Preis.

„Einmal hier in Aachen auf der Siegertafel zu stehen, das ist einer meiner Kindheitsträume“, sagt die 37-Jährige wenig später, während sie fast noch ein bisschen ehrfürchtig beobachtet, wie ihr Name auf der legendären Tafel vor den Toren des Hauptstadions seinen Platz findet. Dabei ist es nicht der erste ihrer Träume, den Dalera Wirklichkeit werden lässt, hat sie ihrer Reiterin doch unter anderem bereits zwei olympische Goldmedaillen, sechs Europameister-Titel und zwei Siege im Weltcupfinale geschenkt. Und doch ist Jessica von Bredow-Werndl anzumerken, dass Momente wie diese für sie nicht selbstverständlich sind. Die zweifache Mutter weiß um die Besonderheit der außergewöhnlich innigen Bindung, die sie zu der 1,80 Meter großen Stute pflegt. Was Dalera am liebsten mag? Neben Karotten seien das Streicheleinheiten und Aufmerksamkeit. Genau diese Menschenbezogenheit ist es, die den Trakehner Pferden seit jeher nachgesagt wird, ebenso die Eigenschaft, für „ihren Menschen“ über sich hinauszuwachsen. „Dalera gibt immer 100 Prozent und noch mehr“, versucht Jessica von Bredow-Werndl das Gefühl zu beschreiben, wenn sie mit ihrer Tanzpartnerin, wie sie die Stute liebevoll nennt, das Viereck betritt. „Jessica und Dalera, das geht nicht einzeln, das gehört unbedingt zusammen“, hat Bundestrainerin Monica Theodorescu die vollkommene Verbindung zwischen Reiterin und Pferd einmal beschrieben.

Eine Verbindung, die für jedermann zu spüren ist, wenn die beiden in den Dressurvierecken dieser Welt die Kunst zelebrieren, die schwierigsten Lektionen ganz leicht aussehen zu lassen. Mit feinster, kaum erkennbarer Hilfengebung der Reiterin und einem Pferd, das in Sachen Motivation, Korrektheit und Konstanz seinesgleichen sucht. Wahrscheinlich wäre Dalera ohne Jessica von Bredow-Werndl heute auch nicht eines der erfolgreichsten Dressurpferde der Welt und Jessica von Bredow-Werndl nicht die vielfache Goldmedaillen-Gewinnerin, die sie dank Dalera geworden ist. Die beiden haben einfach den sprichwörtlichen Draht zueinander, den es braucht, um im internationalen Spitzensport zu brillieren. Und das war von Anfang an so. „Ihre Aura hat mich direkt fasziniert“, erinnert sich die Dressurreiterin aus Bayern an jenen Moment im Jahr 2016, als sie der Stute aus dem Besitz der Schweizerin Beatrice Büchler-Keller das erste Mal gegenüberstand. Seit diesem Tag bilden die beiden eine Partnerschaft, die zu etwas Besonderem herangereift ist und sich heute durch ein blindes Vertrauen zueinander auszeichnet. Eine Partnerschaft, die – so sagt es die Reiterin – noch nicht am Zenit ihrer Leistungsfähigkeit angekommen ist. Denn Träume hat Jessica von Bredow-Werndl immer noch. Und wer weiß, vielleicht wird Dalera ihr weitere davon erfüllen – so wie zuletzt am 2. Juli 2023 in Aachen.

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